Dublinverfahren, Abschiebungen und Asylaberkennungen im 1. Halbjahr 2022

Das Innenministerium gibt nach Kritik an seiner Informationspolitik seit 2022 neue Statistiken heraus. In der monatlich erscheinenden Asylstatistik geht es um Asylanträge, Entscheidungen und die Grundversorgung. Zusätzlich gibt es ganz neu quartalsweise eine sogenannte “Detailstatistik – Kennzahlen BFA“. Hinter dieser sehr seltsamen Bezeichnung verbirgt sich eine gut 30seitige Aussendung mit Statistiken zu Familienzusammenführungen, Asylaberkennungen, Dublinverfahren, Ausreisen und Daten zu unbegleiteten Minderjährigen in Asylverfahren. Auf den ersten Blick eine wirklich gute Sache, auf den zweiten Blick dann nicht mehr ganz so gut. Warum, hab ich vor ein paar Monaten mal hier aufgeschrieben. Diese Statistik ist aber die einzige, die wir zur Zeit haben und deshalb wollen wir uns die mal anschauen. Ich hab 3 interessante Teilbereiche rausgepickt:

    • Dublinverfahren und -überstellungen,
    • Ausreisen und Abschiebungen und
    • Aberkennungen von Asyl und Subsidiärem Schutz.

Wer sich die komplette Statistik anschauen will, kann das hier machen: Detailstatistik – Kennzahlen BFA 1. und 2. Quartal 2022

Dublinüberstellungen

In Dublin-Verfahren wird geprüft, welches Land für die Bearbeitung eines Asylantrags zuständig ist. Geregelt ist das Verfahren durch die europäische „Dublin-III-Verordnung“, die in allen EU-Mitgliedsstaaten sowie der Schweiz, Norwegen, Liechtenstein und Island Anwendung findet. Stellt man einen Asylantrag in einem dieser Länder, wird zum Beispiel mittels EURODAC geprüft, ob schon in einem anderen Land Fingerabdrücke gespeichert sind. Wird festgestellt, dass ein anderer Staat zuständig ist, soll die Person in diesen Staat überstellt werden.  Dazu gibt es seit heuer quartalsweise genauere Zahlen.

Dublin-Out

Das sind Verfahren, in denen Österreich die Zuständigkeit eines anderen Staates prüft. Also wie viele Menschen sollen in einen anderen “Dublin-Staat” überstellt werden und wohin?

Im 1. Halbjahr 2022 hat Österreich 6.547 “Konsultationen” (also: Verfahren) eingeleitet. Die allermeisten davon (mit sehr großem Abstand!) mit Bulgarien. Gut 4.600 Menschen sollten aus Österreich zurück nach Bulgarien geschickt werden, damit ihr Asylverfahren dort geführt wird. Dann folgen Rumänien (mit 432 Verfahren), Deutschland (mit 420) und Italien (mit 347).

Von den gut 6.500 Verfahren, die Österreich eingeleitet hat, waren rund 4.000 erfolgreich, heißt: das andere Land hat der Überstellung zugestimmt. Tatsächlich überstellt wurden aus Österreich 537 Personen. Leider gibt es keine Angaben dazu, wohin diese 537 Menschen überstellt wurden oder welche Länder besonders oft Verfahren abgelehnt haben. Es wäre doch interessant zu wissen, wie viele der 4.612 Menschen, die Österreich nach Bulgarien schicken wollte, auch tatsächlich dorthin überstellt wurden. Ich hab nämlich das Gefühl, dass das sehr, sehr wenige waren. Aber das ist halt eines der Probleme mit der neuen BMI-Statistik: Es werden nur die Zahlen bekannt gegeben, mit denen sich ein gewisser Spin unterfüttern lässt. “4.600 Menschen sollen nach Bulgarien abgeschoben werden” lässt sich halt im Boulevard gut verbreiten. Dass Bulgarien wahrscheinlich einem Großteil der Überstellungen gar nicht zugestimmt hat und schlussendlich so gut wie niemand tatsächlich dorthin geschickt wurde, interessiert die breite Masse dann nicht mehr. Es macht also auf jeden Fall Sinn, sich mit einer Dublin-Entscheidung Bulgarien betreffend an eine Rechtsberatung zu wenden.

Dublin-In

Das sind Verfahren, in denen andere Länder prüfen, ob Österreich für das Asylverfahren zuständig ist.

Rund 7.000 solcher Verfahren wurden im 1. Halbjahr 2022 eingeleitet. Österreich hat 3.147 Mal einer Überstellung zugestimmt, 614 Menschen wurden dann tatsächlich nach Österreich überstellt. Wenig überraschend sind die Top 3 Länder, die Verfahren eingeleitet haben. An erster Stelle ist Frankreich, das fast 3.000 Menschen nach Österreich zurückschicken wollte. Dann folgen Deutschland (mit 1.679 Verfahren) und Belgien (mit 1.214). Aber leider gibt es auch hier wieder keine Angaben dazu, wie oft diese Verfahren erfolgreich waren und woher die 614 Menschen, die auch tatsächlich überstellt wurden, gekommen sind.

Dublin-In Dublin-Out
eingeleitete Verfahren 7.018 6.547
Zustimmung 3.147 4.021
tatsächliche Überstellung 614 537

In dieser Tabelle sieht man, dass nicht mal 10% aller eingeleiteten Verfahren mit einer tatsächlichen Abschiebung in ein anderes Dublin-Land enden. Und daher nochmal die eindringliche Bitte: Sucht euch Rechtsberatung, wenn Bekannte, Freund*innen, Klient*innen mit einer Dublin-Entscheidung konfrontiert sind!

Ausreisen

Das Innenministerium hatte angekündigt, endlich auch von sich aus Zahlen zu Abschiebungen zu veröffentlichen. Bisher gab es die nur nach aufwendigen parlamentarischen Anfragen. Leider ist aber auch diese neue Statistik sehr selektiv und wenig aussagekräftig. Unter “Gesamtausreisen”, werden Abschiebungen, Dublinüberstellungen, “freiwillige” Ausreisen und neuerdings “133a StVG-Ausreisen” vermischt. (Anm: Nach 133a StVG wird strafrechtlich verurteilten Menschen die Reststrafe erlassen, wenn sie bereits die Hälfte einer Haftstrafe abgesessen haben und freiwillig ausreisen) Aber schauen wir uns das mal im Detail an:

Screenshot Quartalsstatistik Q1-Q2 2022, BUNDESMINISTERIUM für INNERES, Abteilung V/B/8-Asyl

Zuallererst fällt auf, dass die Slowakei, Serbien, Ungarn und Rumänien als europäische Länder wie immer die Statistik anführen. Auch bei Abschiebungen sind EU-Länder an erster Stelle. Was etwas überrascht, ist die Ukraine an dritter Stelle. Das ist auf die Vielzahl an freiwilligen Ausreisen zurückzuführen. 434 ukrainische Staatsangehörige haben Österreich in den ersten 6 Monaten 2022 freiwillig verlassen.

Was noch überrascht, sind die 14 syrischen Staatsbürger*innen und die 2 afghanischen Staatsangehörigen, die im ersten Halbjahr 2022 aus Österreich abgeschoben (und nicht Dublin-überstellt!) wurden.

Screenshot Quartalsstatistik Q1-Q2 2022, BUNDESMINISTERIUM für INNERES, Abteilung V/B/8-Asyl (Markierungen von D. Schneidtinger)

Die wurden weder nach Syrien, noch nach Afghanistan abgeschoben, sondern sehr wahrscheilich in ein Drittland, in dem die Personen einen Aufenthaltstitel haben (wohlgemerkt: Drittland, nicht EU-Staat. Das sind also keine Menschen, die zum Beispiel schon Asyl in Griechenland haben.) Wohin die genau abgeschoben wurden, weiß man nicht, weil das Innenministerium behauptet, nur Statistiken nach Staatsangehörigkeit und nicht nach Zielstaat zu führen. Das stimmt nicht – das BMI wurde in  vergangenen parlamentarischen Anfragen mit 2 “Statistiken nach Zielland” aus dem eigenen Haus konfrontiert. Sie beharren trotzdem darauf, dass es diese Zahlen nicht gibt. Mit Spannung erwarte ich eine Anfragebeantwortung, die in 2 Wochen kommt, in der Stephanie Krisper von den Neos unter anderem nachgefragt hat, wohin nach der Talibanübernahme afghanische Staatsbürger*innen abgeschoben wurden. Wir werden sehen, was das BMI dazu sagt.

Aberkennungsverfahren

Asyl und auch Subsidiärer Schutz können unter bestimmten Umständen wieder aberkannt werden.

Asylberechtigte verlieren ihren Status, wenn die betroffene Person nicht mehr schutzwürdig ist, einen Ausschlussgrund gem. § 6 AsylG gesetzt hat, sich wieder dem Schutz des Herkunftsstaats unterstellt (also zum Beispiel dort hin reist) oder den Lebensmittelpunkt in einen anderen Staat verlegt (also umzieht). Auch wenn die Staatendokumentation des BFA feststellt, dass es im Herkunftsstaat zu einer dauerhaften Verbesserung der Situation gekommen ist, wird ein Verfahren zur Aberkennung eingeleitet.

Subsidiär Schutzberechtigte verlieren ihren Status, wenn die betroffene Person nicht mehr schutzwürdig ist, einen Ausschlussgrund gem. § 9 Abs. 2 AsylG gesetzt hat, die Staatsangehörigkeit eines anderen Staates erlangt hat oder den Lebensmittelpunkt in einen anderen Staat verlegt.

Bei Straffälligkeit kann der Status aberkannt werden, aber nur in ganz streng geregelten Fällen und nicht generell.

Das BFA veröffentlicht seit heuer alle 3 Monate auch genaue Statistiken zu Aberkennungen von Subschutz und Asylstatus. Die Zahlen sprechen Bände!

So wurden im 1. Halbjahr diesen Jahres über 1.600 Aberkennungsverfahren eingeleitet. Sehr viele wegen Straffälligkeit, sehr viele wegen angeblicher Reisen ins Herkunftsland. Afghanische Staatsangehörige führen die Statistik an – mit fast 400 eingeleiteten Aberkennungsverfahren.

Screenshot Quartalsstatistik Q1-Q2 2022, BUNDESMINISTERIUM für INNERES, Abteilung V/B/8-Asyl

Schaut man sich allerdings im Vergleich dazu die erlassenen Aberkennungsentscheidungen an und nicht nur die eingeleiteten Verfahren, dann stellt man fest, dass nur rund 35% der eingeleiteten Verfahren auch zu einer tatsächlichen Aberkennung führen. 65% der Verfahren werden eingestellt, weil das BFA Aberkennungsgründe unterstellt, die nicht gegeben sind.

Afghanistan ist ein krasses Beispiel. 394 Aberkennungsverfahren wurden in den ersten 6 Monaten eingeleitet. Nur 12 Personen wurde auch tatsächlich der Status aberkannt! 12 von 394! Ähnlich sieht es bei syrischen Staatsangehörigen aus. 377 Mal wollte das BFA den Asylstatus oder Subschutz aberkennen, nur 23 Personen haben diesen Status dann auch tatsächlich verloren.

Eingeleitete Aberkennungsverfahren und erlassene Aberkennungsentscheidungen nach Staatsangehörigkeit (ausgewählte Länder)

Staatsangehörigkeit Verfahren eingeleitet Status  aberkannt
Afghanistan 394 12
Syrien 377 23
Irak 138 49
Iran 68 14
Somalia 45 7
Armenien 21 7

Leider gibt das BFA in der Statistik zu erlassenen Aberkennungsbescheiden keine Gründe an. Es wäre spannend zu sehen, bei welchen Gründen das BFA am häufigsten daneben liegt (meine Vermutung ist ja, dass sehr oft Reisen ins Herkunftsland unterstellt werden, die so nicht stattfanden). Aber das ist halt die Krux mit dieser neuen Statistik des Innenministeriums. Sieht auf den ersten Blick toll aus, aber es werden natürlich wieder nur die Zahlen veröffentlicht, die genehm sind und mit denen sich ein bestimmtes Bild zeichnen lässt. Und “400 Afghanen sollen wegen Straffälligkeit und Heimaturlaub den Asylstatus verlieren!” sieht halt in der Öffentlichkeit besser aus als “12 Afghanen haben ihren Schutzstatus verloren”.

Zum Glück gibt es in den nächsten Wochen mehrere Anfragebeantwortungen verschiedener Parteien zu genau diesen Bereichen, in denen das Innenministerium gezwungen sein wird, genauere und umfangreichere Daten bekannt zu geben. Mehr dazu dann wie immer hier.