UK schiebt Asylwerber*innen nach Ruanda ab

Update 15.6.: Gestern Nacht haben sich die Ereignisse überschlagen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat am späten Nachmittag in einer seltenen Eilentscheidung die Abschiebung einer der sieben Personen untersagt, weil nicht gewährleistet sei, dass in Ruanda ein rechtskonformes Asylverfahren stattfinden kann. Den vollständigen Text der “interim measure” findet man hier. Angelehnt an diese Entscheidung haben die Rechtsvertreter*innen der anderen Abzuschiebenden weitere Rechtsmittel versucht.

Auch britische Gerichte haben in Anlehnung an die einstweilige Verfügung des EGMR die Abschiebung einzelner Personen in allerletzter Minute untersagt. Wie die Journalistin Molly Blackall auf Twitter schreibt, war die Besatzung bereits im Flugzeug, als Gerichte über das Schicksal der letzten Personen entschieden haben. Um 22:10 Uhr (20 Minuten vor dem geplanten Abflug!) konnte die NGO “Care4Calais”, die mehrere Asylwerber*innen vertreten hat, endgültig vermelden:


Am 13. April 2022 haben Boris Johnson, der britische Premierminister, und Priti Patel, die umstrittene Innenministerin, den “Rwanda asylum plan” bekannt gegeben. Menschen, die mit dem Boot über den Ärmelkanal nach Großbritannien kommen, sollen zukünftig noch vor Bearbeitung ihres Asylantrags nach Ruanda abgeschoben werden können – egal, aus welchem Land sie ursprünglich stammen. Unter den ersten Abgeschobenen befinden sich Menschen aus Syrien, Afghanistan, dem Irak und Vietnam.

Nach ihrer Ankunft in Ruanda werden die Asylwerber*innen in einem Hotel in der Hauptstadt Kigali untergebracht, während ihre Asylanträge bearbeitet werden. Die BBC hat 2 Hotels besucht, in denen die Menschen wohnen sollen. Den Bericht findet man hier.

Im Falle eines positiven Bescheids erhalten sie dann eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung für Ruanda und eine feste Unterkunft. Die Menschen dürfen nicht nach Großbritannien zurückkehren, sondern sollen dauerhaft dort bleiben. Nach einem negativen Bescheid soll Ruanda die Menschen in ihren Herkunftsstaat abschieben. Das Abkommen gilt vorerst für 5 Jahre, danach soll evaluiert werden.

Der britischen Regierung geht es offiziell vor allem um Abschreckung und Schlepperbekämpfung. Sie hofft, der Deal mit Ruanda sorgt dafür, dass sich weniger Geflüchtete von Frankreich aus über den Ärmelkanal auf den Weg nach Großbritannien machen. NGOs kritisieren, dass der Weg übers Meer die einzige Möglichkeit ist, nach Großbritannien zu kommen. Nur ukrainische Geflüchtete haben zur Zeit die Möglichkeit, vom europäischen Festland aus einen Antrag zu stellen und dann legal einzureisen – für alle anderen bleibt nur der gefährliche Weg über den Ärmelkanal. Alleine gestern sind 138 Menschen in Booten angekommen, im laufenden Jahr waren es bis jetzt über 10.000.

Ruanda bekommt für das Abkommen umgerechnet 140 Millionen Euro und zusätzlich für jede*n aufgenommenen Asylwerber*in zwischen 20.000 und 30.000 Pfund für die Unterbringung. Großbritannien ist bis jetzt zwar das einzige Land, das Menschen nach Ruanda schickt, aber Dänemark führt bereits Gespräche um eine ähnliche Vereinbarung zu treffen und der UNHCR siedelt seit 2019 Asylwerber*innen aus Libyen nach Ruanda um. Für diese Menschen wurde eigens ein Lager 60 km außerhalb der Hauptstadt gebaut, fast 1000 Menschen sind dort bisher untergebracht.

Kritik an dem Abkommen zwischen Großbritannien und Ruanda kommt vor allem von Menschenrechtsorganisationen. Sie nennen das Abkommen unmoralisch, gefährlich und falsch. Dazu kommt die Frage, ob Ruanda den Geflüchteten wirklich eine Zukunft bieten kann. Es gibt Zweifel, dass die Geflüchteten dort angemessen versorgt werden können. Auch die Menschenrechtslage in Ruanda soll nach Angaben von Beobachter*innen schlecht sein. Dem autokratisch regierten Land wird vorgeworfen, Oppositionelle zu verfolgen. Sorgen macht NGOs auch der Umgang Ruandas mit LGBTIQ-Personen – ob diese ein faires Asylverfahren erwartet, kann bezweifelt werden. Zusätzlich gibt es Bedenken, ob Ruanda genügend ausgebildetete Dolmetscher*innen für Arabisch, Dari, Pashto und andere Sprachen und genügend Rechtsberater*innen zur Verfügung stellen kann, um ein faires Verfahren zu garantieren.

Ungewöhlich deutliche Kritik kommt auch von der anglikanischen Kirche. Bischöfe und die gesamte Führungsspitze der Church of England haben in einem offenen Brief die Abschiebung kritisiert. Auch der UNHCR hat den Plan scharf verurteilt. Für zusätzliche Kritik hat ein Brief des britischen Innenministeriums an die Abzuschiebenden gesorgt, in dem das Home Office angedeutet hat, UNHCR sei an der Abschiebung und anschließenden Unterbringung beteiligt. UNHCR hat das sehr deutlich verneint.

Mehrere NGOs und Aktivist*innengruppen haben in den letzten Wochen mit Kampagnen und Rechtsmitteln versucht, den heutigen Flug zu verhindern. “Detention Action” und “Care4Calais” haben zusammen mit vier Asylwerbern versucht, die Abschiebung vor dem High Court (dem Obersten Gericht) anzufechten und in letzter Minute eine einstweilige Verfügung zu beantragen, um den Start des Fluges zu verhindern. Am 10. Juni 2022 lehnte der High Court die beantragte einstweilige Verfügung jedoch ab.

“Detention Action” teilte mit, dass die Berufung eines ihrer Klienten, eines vietnamesischen Staatsangehörigen, ebenfalls abgelehnt wurde. “Wir sind zutiefst besorgt um die Sicherheit und die Rechte unseres Mandanten, der ursprünglich in der Ukraine Asyl beantragt hat und vor Putins Krieg nach Großbritannien geflohen ist”, heißt es in einer Erklärung. “Er spricht kein Englisch, und das Innenministerium hat nicht einmal zugesichert, dass ihm ein vietnamesischer Dolmetscher [in Ruanda, Anm.] zur Seite stehen wird, um ihm bei seinem Asylantrag zu helfen.”

Auf dem heutigen Flug sollen 6 bis 7 Personen abgeschoben werden. Über 300 haben eine schriftliche Mitteilung bekommen, nach Ruanda geschickt zu werden, ursprünglich sollten mit dem ersten Flug 35 Menschen fliegen. In den letzten Tagen hat sich diese Zahl aufgrund von rechtlichen Interventionen immer weiter verringert. Elizabeth Truss, die britische Aussenministerin, hat aber schon verlauten lassen, der Flug werde auch stattfinden, wenn damit nur eine einzelne Person abgeschoben wird und wer nicht auf dem ersten Flug ist, wird auf einem der nächsten Flüge sein. Die Regierung setzt also alles daran, den Flug durchzuziehen und ein Exempel zu statuieren.

Welche Fluglinie den Flug durchführen wird, war bis vor Kurzem nicht bekannt. Aktivist*innen und Journalist*innen haben die üblichen Charterlinien angeschrieben und auf sozialen Medien Druck gemacht. Titan Airways, die  auch für Österreich, Deutschland und Schweden schon Abschiebungen durchgeführt haben, haben überraschenderweise daraufhin ein Statement veröffentlicht, dass sie an dem Flug nicht beteiligt sind.

Aktivist*innen haben vor einigen Tagen in öffentlich zugänglichen Datenbanken Flugdaten gefunden und konnten so das Flugzeug identifizieren. Den Flug heute wird die spanische Fluglinie Privilege Style durchführen, die bei Abschiebungen aus ganz Europa eine alte Bekannte ist. Aus Österreich ist sie unter anderem regelmäßig nach Kabul und Lagos geflogen. Das Flugzeug ist die Boeing 767 mit dem Kennzeichen EC-LZO.

Foto: BWard, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Der ursprünglich geplante Abflug vom Flughafen London Stansted wurde vermutlich aufgrund erwarteter Proteste auf den Militärflughafen “Boscombe Down” westlich von London verlegt. Von dort aus sollen also heute Abend so gegen 22 Uhr 6 oder 7 Menschen, mit Glück noch weniger, Richtung Kigali/Ruanda abheben. Eine Aktion, die ähnliche Pläne in Dänemark und Österreich befeuern und das europäische Asylsystem weiter aushöhlen wird.