Abschiebecharter nach Afghanistan abgesagt – warum und wie geht’s jetzt weiter?

Gestern, am 3.8.2021, hätte die 27. Charterabschiebung von Österreich nach Afghanistan stattfinden sollen. Der Flug wurde kurzfristig abgesagt – und zwar nicht nur der “österreichische Teil”, sondern es wurde auch aus Deutschland (das sich am Flug beteiligt hätte) niemand abgeschoben und es gab auch aus keinem anderen Land gestern Nacht einen Charterflug nach Afghanistan.

Dass komplette Charterflüge so kurzfristig abgesagt werden, kommt sehr selten vor. Der Grund für die Absage dieses Flugs ist eine einstweilige Verfügung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Die Wiener NGO Deserteurs- und Flüchtlingsberatung hat diese Maßnahme für einen ihrer Klient*innen beantragt. Normalerweise dauern Verfahren vor dem EGMR sehr lange, aber es gibt für Notfälle, in denen “unmittelbare Gefahr eines nicht wiedergutzumachenden Schadens droht” die Möglichkeit, einen Eilantrag zu stellen, der innerhalb von wenigen Stunden behandelt wird. Der Gerichtshof gibt solchen Anträgen nur in sehr wenigen Fällen statt, nämlich, “wenn dem Beschwerdeführer anderenfalls ein ernsthafter und irreversibler Schaden drohen würde”. (siehe Informationsblatt des EGMR)

Adrian Grycuk, CC BY-SA 3.0 PL, via Wikimedia Commons

Was ist also nach dem Antrag weiter passiert? Der EGMR hat dem Eilantrag (der interim measure) zugestimmt und dem Innenministerium mitgeteilt, dass die Abschiebung der Person, die den Antrag gestellt hat, bis Ende August auszusetzen ist. Bis dahin müssen das Innenministerium und der Antragsteller dem EGMR schriftlich mehrere Fragen beantworten und Unterlagen einreichen und das Gericht wird dann über den Antrag entscheiden. Es ist also gestern noch keine Entscheidung gefallen, das Gericht hat nur mal gesagt, “Stop! Wartet’s mit der Abschiebung noch bis wir uns das genauer angeschaut haben und außerdem hätten wir ein paar Fragen.”

Die Fragen, die Österreich beantworten muss, sind folgende: (Achtung, das ist nur eine Arbeitsübersetzung von mir!)

  1. Wie plant die Regierung den Antragsteller am 3.8.2021 abzuschieben, wenn das afghanische Ministerium für Flüchtlinge die Entscheidung getroffen hat, bis 8. Oktober 2021 keine Abschiebungen mehr zuzulassen?
  2. Die neusten Entwicklungen der Sicherheitslage in Afghanistan (die offenbar nicht vom BFA oder dem BVwG in ihrer Entscheidung berücksichtigt wurden) haben dazu geführt, dass das afgh. Flüchtlingsministerium bittet Abschiebungen auszusetzen und Finnland, Schweden und Norwegen haben dem bereits entsprochen. Droht dem Antragsteller in Angesicht dessen ein reales Risiko eines irreparablen Schadens im Sinne von Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention, sollte er am 3.8.2021 abgeschoben werden?
  3. Hat der Antragsteller alle rechtlichen Möglichkeiten in Österreich ausgeschöpft, in denen die veränderte Sicherheitslage bewertet werden hätte können?

Wenn diese “interim measure” aber nur für einen Einzelfall (nämlich den Antragsteller) gilt, warum wurde dann der gesamte Charterflug abgesagt? Weil diese einstweilige Verfügung laut vielen Jurist*innen etwas Besonderes ist. Normalerweise bezieht sich der EGMR in diesen Verfügungen spezifisch auf die konkrete Situation des/der Antragsteller*in. Warum darf genau diese sehr kranke/besonders gefährdete/politisch verfolgte,… Person, die in Europa Familie hat/kein rechtmäßiges Verfahren hatte,… nicht abgeschoben werden? Das ist diesmal nicht der Fall. Der EGMR bezieht sich ausdrücklich auf die Sicherheitslage in Afghanistan und das betrifft eben nicht nur diese einzelne Person, sondern alle. Und auch nicht nur Abschiebungen aus Österreich, sondern Abschiebungen aus ganz Europa. Das macht diese einstweilige Verfügung so besonders. Und das könnte auch der Grund dafür sein, warum auch Deutschland gestern Nacht noch die Abschiebung abgesagt hat (vom deutschen Innenministerium gibt es keine Angabe zu den Gründen).

Ein interessantes Detail erwähnt auch der Standard in seinem Artikel. Frontex habe am 17.7. die Mitgliedsstaaten darüber informiert, dass temporär von ihnen keine Abschiebeflüge nach Afghanistan mehr organisiert werden.

Wie geht’s also nun weiter? Österreich und der Antragsteller haben bis Ende August Zeit, dem EGMR die Fragen zu beantworten und Unterlagen zur Verfügung zu stellen und der EGMR wird dann zeitnah eine Entscheidung darüber treffen, ob eine Abschiebung des Antragstellers zulässig ist oder nicht. Dann wird man wohl weitersehen.

Was die einstweilige Verfügung für Menschen bedeutet, die mit einer rechtskräftig negativen Entscheidung in Österreich leben und somit akut von Abschiebung bedroht sind, erfragt man im Einzelfall am besten bei einer Rechtsberatung oder einer Anwält*in.

Adressen von Rechtsberatungen in Wien und ganz Österreich findet ihr auf der Seite der asylkoordination. Viele wissen das nicht, aber sowohl die Caritas als auch die Diakonie bieten trotz der neu gegründeten BBU weiterhin Rechtsberatung an!

Adressen von Anwält*innen des Netzwerks Asylanwalt findet ihr hier.

Quellen: Seite der Deserteurs- und Flüchtlingsberatung, auf der man auch die interim measure im Original nachlesen kann.

sehr informativer Twitterthread von @art18bvg

Blogpost des Verfassungsrechtlers Ralph Janik