“Einige Beobachter haben angemerkt, dass die verfügbaren Dolmetscher nicht die Sprache der Abzuschiebenden bzw. die Landessprache des Ziellandes gesprochen haben, was die Kommunikation erschwert hat.”
“Der Fundamental Rights Officer empfiehlt, Zwangsmaßnahmen (Anm: Handschellen u.ä.) nicht als allgemeine Vorsichtsmaßnahme anzuwenden sondern nur nach einer individuellen Risikobewertung, vor allem wenn diese Zwangsmaßnahmen Kinder betreffen.”
“Es gab mehrere Vorkommnisse, bei denen Escorts (Anm.: begleitende Beamte) mit ihren Händen auf das Gesicht von Abzuschiebenden gedrückt haben.”
“In einem Fall wurde beobachtet, dass der Escort Leader (Anm.: der Leiter der Abschiebung) eine Liste an die Behörden des Herkunftsstaats übergeben hat, in der persönliche Informationen wie medizinische Daten und die Fluchtgründe der Abgeschobenen enthalten waren.”
Das sind Auszüge aus den Berichten von Frontex über die Menschenrechtsbeobachtung auf ihren Abschiebeflügen von 2018 bis 2020.
Seit dem gewaltsamen Tod von Marcus Omofuma 1999 werden in Österreich auf Charterabschiebungen Menschenrechtsbeobachter*innen eingesetzt und seit einigen Jahren empfiehlt auch Frontex eine solche Beobachtung. Unterschiedliche Organisationen sind in den verschiedenen EU-Ländern mit dieser Aufgabe betraut. In Österreich war das bis Ende 2020 der VMÖ, seit Anfang 2021 kommen die Menschenrechtsbeobachter*innen von der neu gegründeten und dem Innenministerium unterstellten Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen, kurz BBU.
Frontex baut zudem seit 2017 einen eigenen “pool of return experts” auf, der aus 700 Menschenrechtsbeobachter*innen, Begleitpersonal und “return specialists” bestehen soll. 2022 soll dieser Pool voll einsatzfähig sein und vermutlich alle Frontexcharter beobachten und begleiten. Frontex wirbt jetzt schon ausgiebig dafür, dass die Länder bei Charterabschiebungen Beobachter*innen aus dem Pool verwenden. Dass Frontex sich somit selbst beobachtet, macht wahrscheinlich nicht nur mir Bauchschmerzen.
Menschenrechtsbeobachter*innen schreiben nach jedem Flug eine Dokumentation für die Behörden des Abschiebelands und Frontex. Einige Länder veröffentlichen diese Berichte jährlich, etwa Schweden, Tschechien, Dänemark, Finnland und Italien. In anderen Ländern, z.Bsp. Frankreich und Spanien, ist eine Veröffentlichung geplant. In Österreich sind diese Berichte geheim.
Die “Fundamental Rights Officer’s Observations to Return Operations”
Frontex legt unter diesem Titel halbjährlich eine Zusammenfassung dieser Menschenrechtsbeobachtungen auf allen europäischen Flügen vor. Diese Berichte wurden bis zum 1. Halbjahr 2019 auf der Homepage von Frontex veröffentlicht, die Berichte vom 2. Halbjahr 2019 und von 2020 sind als “Limité” eingestuft – also nicht zur Veröffentlichung bestimmt und nur zur internen Verwendung innerhalb von EU-Institutionen.
Die Berichte sind immer sehr allgemein gehalten und erwähnen in keinem Wort einzelne europäische Länder oder bestimmte Charterflüge. Es ist also unmöglich festzustellen, ob und wie oft zum Beispiel von Charterflügen aus Österreich die Rede ist. Der Bericht beinhaltet fast immer die Worte: “no serious incidents during return operations were reported, either by the return escorts, nor by the monitors present during the flights.” Auch die Zitate am Anfang fallen also laut Frontex in die Kategorie “no serious incidents”. Der Council of Europe, der u.a. europäische Gefängnisse und Abschiebeeinrichtungen prüft, kommt diesbezüglich zu einem eindeutigen Ergebnis. Das interne System von Frontex produziere so gut wie keine Berichte über schwerwiegende Vorfälle (obwohl der Council of Europe selbst solche auf Abschiebeflügen dokumentiert hat). Mit anderen Worten, Frontex sagt, dass es auf ihren Charterabschiebungen keine Menschenrechtsverletzungen gibt.
Erstaunlich ist, wie sehr sich die Berichte des Fundamental Rights Officers über die Jahre ähneln. Fast scheint es so, als gäbe es zwar von Frontex alle 6 Monate einen Bericht und Empfehlungen, aber es ändert sich so gut wie nichts. Papier ist eben geduldig.
Einem Beobachter ist positiv aufgefallen, dass im Gegensatz zu anderen Abschiebungen bei dieser ein Dolmetscher an Bord war, der die Sprache der Abgeschobenen gesprochen hat.
Ein Thema, das sich durch alle Berichte zieht, sind die Dolmetscher*innen. Es sind entweder zu wenige oder nur Dolmetscher*innen eines Geschlechts. Oder es sind Übersetzer*innen anwesend, die weder die Muttersprache der Abgeschobenen noch die Sprache des Ziellands sprechen. Was das dann für Dolmetscher*innen sind und was die dort machen, erschließt sich mir beim besten Willen nicht.
Ein Rückkehrer musste nackt vor den Beamten warten, während seine Kleidung geröngt wurde, ohne dass ihm eine Bedeckung angeboten wurde.
Auch zum “Recht auf Achtung der Privatsphäre und Eigentum” gibt es in jedem Bericht ähnliche Beobachtungen. Da ist zum Beispiel immer wieder die Rede von Listen mit privaten und medizinischen Informationen der Abzuschiebenden, die frei zugänglich und für alle einsehbar aufliegen. Es kam auch vor, dass Beamte des anderen Geschlechts unbekleidete Durchsuchungen durchgeführt haben oder dass an männlichen Abzuschiebenden systematisch solche Leibesvisitationen vorgenommen wurden.
Die Wertsachen von Abzuschiebenden sollen in einem klar markierten, verschlossenen Kuvert oder Plastikbeutel in der Kabine verwahrt und den Abgeschobenen nach der Landung übergeben werden. Auch benötigte Medikamente sollten eigentlich von mitfliegenden Ärzt*innen in der Kabine mitgeführt werden und nicht im Frachtraum. Immer wieder erwähnen die Berichte, dass das so nicht passiert. Es werden Koffer vertauscht, weil sie nicht eindeutig oder gar nicht beschriftet sind und die Menschenrechtsbeobachter*innen merken immer wieder an, dass sie die Übergabe von Gepäck im Zielland eigentlich gar nicht dokumentieren können, weil sie ja in den meisten Fällen das Flugzeug nicht verlassen. Ein Beobachter hat außerdem berichtet, dass die Abzuschiebenden gar kein Gepäck mitnehmen durften, sondern nur mit dem abgeschoben wurden, was sie bei der Verhaftung dabei hatten.
Einem Beobachter ist aufgefallen, dass Familien mit kleinen Kindern sehr lange in der Kälte draußen vor dem Flughafenterminal warten mussten.
In den letzten Jahren hat sich – zumindest wenn man den Schilderungen folgt – auch die Situation für Kinder, die abgeschoben werden, kaum verändert. In allen Berichten ist die Rede davon, dass es am Terminal keine oder zu wenige Spielsachen gibt oder der Wartebereich für Familien generell ungeeignet ist. Immer wieder müssen Kinder zusammen mit gefesselten Personen auf den Flug warten. Teilweise gibt es am Flughafen keine passende Säuglingsnahrung oder Windeln. Dabei muss man immer bedenken, dass Abzuschiebende in den allermeisten Fällen nicht kurz vor Abflug zum Flughafen gebracht werden, sondern viele Stunden dort verbringen.
Fast wie eine Drohung wirkt diese Empfehlung von Frontex: Wenn Säuglinge und kleine Kinder abgeschoben werden und Eltern Verhalten an den Tag legen, das als „emotionally abusive“ gesehen werden könnte, sollen die zuständigen Behörden (Jugendämter,…) im Herkunftsland verständigt werden.
Bei einer Charterabschiebung waren 10 Personen an den Händen gefesselt, bei einer anderen waren 12 der 24 Abzuschiebenden mit Gurten und Kabelbindern fixiert.
Die Aufzeichungen über Zwangsmaßnahmen sind zum Teil erschreckend – vor allem, wenn man bedenkt, dass keine dieser Beobachtungen von Frontex als “serious incident” eingestuft wird. Vor Charterabschiebungen wird den Menschen klar gemacht, dass die Abschiebung auch bei phyischem Widerstand nicht abgebrochen wird. Heißt: egal, wie sehr man sich körperlich dagegen wehrt, man wird abgeschoben werden. Um das sicher zu stellen, gibt es eine Liste an erlaubten Zwangsmaßnahmen, die den rechtlichen Gegebenheiten der beteiligten Länder und dem Frontex “Code of Conduct” entsprechen muss und vor jedem Flug den Beteiligten bekannt gegeben wird. Außerdem darf Zwangsgewalt nicht präventiv angewandt werden, sondern bedarf immer einer individuellen Einschätzung und Entscheidung.
Der Frontex Verhaltenskodex sagt dazu unter anderem: “Die Anwendung von Zwangsmaßnahmen muss verhältnismäßig sein, darf nicht über angemessene Gewalt hinausgehen und muss die Rechte, die Würde und die körperliche Unversehrtheit der rückzuführenden Person respektieren. […] Zwangsmaßnahmen, die die Möglichkeit der Rückkehrer, normal zu atmen, gefährden oder bedrohen können, dürfen nicht angewendet werden.”
Trotzdem finden sich in den Berichten Beobachtungen darüber, dass zu viele Abzuschiebende gefesselt zum Flughafen gebracht werden, dass Menschen über einen zu langen Zeitraum gefesselt bleiben, dass eine Frau im Rollstuhl fixiert wird, dass Polizist*innen ihre Hände auf das Gesicht von Abzuschiebenden drücken und dass den Menschenrechtsbeobachter*innen nicht immer klar ist, warum Personen gerade gefesselt sind, weil offenbar aus Sicht der Beobachter*innen keine unmittelbare Gefahr oder Widerstand von ihnen ausgeht. Es wird auch immer wieder beobachtet, dass Zwangsmaßnahmen angewendet werden, die nicht erlaubt sind.
Es finden sich im Bericht auch Anekdoten wie diese: Ein Mann war über eine lange Zeit gefesselt. Auf Nachfrage des Menschenrechtsbeobachters, warum die Fesseln nicht abgenommen wurden, als der Mann eingeschlafen war, erhielt er von den begleitenden Beamten die Antwort, sie haben den Mann nicht wecken wollen.
Die Dokumentation von überschießenden und zu allgemein angewandten Zwangsmaßnahmen zieht sich durch alle Berichte über alle Jahre. Auch in diesem Bereich ändert sich von Bericht zu Bericht nichts. Der Fundamental Rights Officer empfiehlt immer wieder, sich an den Frontex “Code of Conduct” zu halten und das war’s. Oft folgt der Schilderung von Zwangsgewalt auch keine Kritik, sondern lediglich die Feststellung, dass solche Maßnahmen auf Charterflügen sehr oft angewandt werden. Wie oft genau und auf welchen Flügen, erfährt man aus den Berichten nicht. Ich hab eine einzige Quelle gefunden, in der konkrete Zahlen genannt werden. Im Februar 2019 hat ein schwedischer “Police Superintendent” im Rahmen einer Frontexveranstaltung seine Studie zu “Use of Force and Coercive Measures During Joint Return Operations” vorgestellt. Der Vortrag wurde gestreamt und lässt sich hier nachschauen. Er hat europäische Charterflüge zwischen 2013 und 2016 untersucht und festgestellt, dass auf 65% der Charterflüge Zwangsgewalt angewendet wurde. Flüge nach Nigeria stechen besonders hervor – von 43 Flügen im untersuchten Zeitraum wurden auf 38 davon Zwangsmaßnahmen angewandt.
Das Medium “EU Observer” hat Ende 2019 in diesem erschreckenden Artikel unverhältnismäßige Zwangsgewalt auf einem Abschiebecharter von Deutschland nach Afghanistan dokumentiert – Beobachter*innen des Council of Europe hatten die Gelegenheit diesen Flug zu begleiten. Auf dem Flug haben “zur Beruhigung” mehrere Polizist*innen einen Abzuschiebenden festgehalten. Ein Beamter hat von hinten am Hals des Mannes gezogen und gleichzeitig seine Nase nach oben gerissen. Der Abzuschiebende war an Händen und Füßen gefesselt und musste einen Helm tragen. Ein anderer Beamter ist auf den Oberschenkeln des Mannes gekniet und hat mit der Hand die Genitalien des Abzuschiebenden gequetscht. Auch auf diesem Flug gab es laut Frontex “no serious incidents”.
Frontex will in den nächsten Jahren einen großen Pool an allen möglichen “Return Experts” schaffen, der im besten Fall die gesamte Organisation, Begleitung und auch Menschenrechtsbeobachtung von Abschiebungen aus Europa übernehmen soll. Jeder Flug soll von Begleiter*innen beobachtet und dokumentiert werden, die von Frontex auch selbst ausgebildet wurden und so soll die Einhaltung der Menschenrechte garantiert werden. Das ist die Werbebotschaft von Frontex. In ihrem eigenen Bericht aus 2020 steht ein Satz, der mich in diesem Zusammenhang ratlos zurücklässt.
Laut Frontex Evaluation Report wurden alle Frontexabschiebungen von Menschenrechtsbeobachtern beobachtet, allerdings war nicht immer ein Beobachter physisch mit an Bord.